
Ich bin TCM-Therapeut – und frage mich, wohin sich unser Beruf entwickelt
Die neue Höhere Fachprüfung der OdA AM soll die Komplementärmedizin stärken – doch ohne klare rechtliche Anbindung, gerechte Übergangsregelung und tragfähige Versicherungsmodelle droht vielen erfahrenen Therapeut:innen der Ausschluss. Was heute fehlt, ist nicht Qualität. Es ist die strukturelle Unterstützung. Ein Beitrag über Verantwortung, Versäumnisse – und was jetzt dringend gebraucht wird.




Alternativmediziner:innen und Komplementärtherapeut:innen leisten seit Jahrzehnten einen wichtigen Beitrag zur Gesundheit vieler Menschen in der Schweiz.
Sie tun das mit fundierter Ausbildung, kontinuierlicher Weiterbildung
und grossem Engagement für ganzheitliche Betreuung.
Ich schreibe diesen Beitrag nicht als Aussenstehender, sondern als TCM-Therapeut mit eigener Praxis.
Was ich hier schildere, betrifft mich selbst – und viele Kolleg:innen, die sich seit Jahren mit Fachwissen, Verantwortung und Sorgfalt für ihre Patient:innen engagieren.
Berufspolitisch wurde in den letzten Jahren vieles erreicht:
Mit der Einführung eidgenössisch anerkannter Berufsabschlüsse in der Alternativ- und Komplementärmedizin, ist eine wichtige Grundlage für Professionalisierung und Qualitätssicherung geschaffen worden.
Doch in der Praxis zeigt sich ein anderes Bild.
Was als Professionalisierung präsentiert wird, birgt für viele Praktizierende neue Unsicherheiten.
Insbesondere die anstehende Höhere Fachprüfung (HFP) im Rahmen der OdA AM stellt langjährig tätige Therapeut:innen vor grosse Herausforderungen: Inhaltlich, organisatorisch und wirtschaftlich.
In diesem Beitrag geht es nicht um Kritik an Entwicklung.
Es geht um die Frage:
Wie gestalten wir Wandel so, dass er stärkt – nicht verdrängt?
Der Status quo: Anerkennung auf dem Papier, nicht im System
In der Schweiz existieren zwei zentrale Versorgungsmodelle im Gesundheitswesen:
- Die Grundversicherung, die gesetzlich geregelt ist und schulmedizinische Leistungen abdeckt.
- Die Zusatzversicherung, die alternativ- oder komplementärmedizinische Leistungen teilweise vergütet – je nach Anbieter, Leistungsumfang und den individuellen Aufnahmebedingungen der jeweiligen Krankenkasse.
Komplementär- und Alternativmedizin sind in der Grundversicherung nicht enthalten, es sei denn, sie werden durch Ärzt:innen mit entsprechender Weiterbildung erbracht.
Das führt in der Praxis zu einer systemischen Lücke:
- Wer keine Zusatzversicherung hat, muss die Behandlung selbst zahlen – auch wenn sie ärztlich empfohlen wurde. Für viele ist das nicht tragbar.
- Wer eine solche Versicherung abschliessen möchte, steht vor hohen Hürden: Krankenkassen prüfen individuelle Gesundheitsdaten, können Anträge ablehnen oder Risikozuschläge verlangen – ganz legal, denn eine Aufnahmepflicht besteht nicht.
- Selbst bei bestehender Zusatzversicherung sind die Leistungen häufig begrenzt: Viele Versicherer setzen jährliche Obergrenzen für komplementärmedizinische Behandlungen – sowohl finanziell als auch in der Anzahl der Sitzungen. Eine kontinuierliche, individuell abgestimmte Therapie ist so kaum möglich.
Im Gegensatz dazu werden gewisse andere medizinische Leistungen – sofern ärztlich verordnet – ohne vergleichbare Einschränkungen über die Grundversicherung finanziert.
Hier entsteht ein strukturelles Ungleichgewicht, das Patient:innen nicht nur nach Beschwerden, sondern auch nach Versicherungsstatus unterschiedlich behandelt.
Gerade diese Gruppen – chronisch Kranke, ältere Menschen, Personen mit komplexen Beschwerden – könnten besonders stark von alternativ- und komplementärmedizinischer Begleitung profitieren.
Nicht weil Alternativmedizin „besser“ wäre, sondern weil sie an anderen Punkten ansetzt, ergänzt und oft auch entlastet.
Was auf dem Papier als Wahlfreiheit erscheint, ist in Wirklichkeit für viele nicht zugänglich.
Übergangsregelung mit Unsicherheiten
Die Einführung der Höheren Fachprüfung (HFP) ist ein zentraler Schritt zur Standardisierung des Berufsbildes.
Wer heute ein Studium in Komplementär- oder Alternativmedizin beginnt, wird gezielt auf diese Prüfung vorbereitet.
Für bereits praktizierende Therapeut:innen gibt es eine Übergangsregelung – eine Möglichkeit, die Prüfung nachträglich zu absolvieren.
Rollenkonflikt im neuen Berufsbild
Aber ein Aspekt wirft Fragen auf: Im neuen Berufsbild sollen Naturheilpraktiker:innen als Erstanlaufstelle für Patient:innen fungieren – also eigenständig diagnostizieren, Behandlungen einleiten und Verantwortung übernehmen.
In der Praxis ist diese Rolle als Erstanlaufstelle jedoch kaum umsetzbar – und das aus mehreren Gründen:
- Leistungen nichtärztlicher Therapeut:innen werden von der Grundversicherung nicht übernommen. Damit sind Patient:innen vollständig auf eine Zusatzversicherung angewiesen – und die ist, wie gezeigt, nicht für alle zugänglich.
- Ohne Zusatzversicherung erfolgt keine Kostenübernahme. Die finanzielle Verantwortung liegt dann allein bei den Patient:innen. Das macht es realistisch kaum möglich, als erste Anlaufstelle zu fungieren – selbst bei klar erkennbarem Behandlungsbedarf.
- Die rechtliche Rolle ist nicht eindeutig geregelt. Es fehlen verbindliche Zuständigkeiten, insbesondere im Zusammenspiel mit der ärztlichen Versorgung – etwa bei der Weiterleitung, Dokumentation oder Mitverantwortung bei Komplikationen.
- Der Zugang zu medizinischen Informationen ist indirekt und oft unvollständig. Therapeut:innen erhalten Laborwerte, Diagnosen oder bildgebende Befunde in der Regel nur dann, wenn Patient:innen diese aktiv mitbringen. Eine direkte, strukturierte Zusammenarbeit mit ärztlichen Stellen besteht meist nicht – was die Beurteilung komplexer Fälle erschwert.
Das neue Berufsbild formuliert Erwartungen,
für die es aktuell keine tragfähigen strukturellen Voraussetzungen gibt.
Therapeut:innen sollen Kompetenzen nachweisen, die im heutigen System kaum umsetzbar sind.
Nicht wegen fehlender Qualifikation, sondern weil rechtliche, versicherungstechnische und institutionelle Grundlagen fehlen.
Das ist kein Qualitätsproblem, sondern ein struktureller Widerspruch und er betrifft nicht nur die Therapeut:innen selbst, sondern auch das Vertrauen der Patient:innen in eine verlässliche und verantwortungsvolle Versorgung.
Bestehende Qualität wird bereits geprüft
Es ist wichtig zu erwähnen, dass die Qualitätssicherung heute bereits funktioniert:
- Über das EMR und die ASCA müssen jährlich mindestens 20 Stunden Weiterbildung nachgewiesen werden.
- Die Organisationen prüfen Inhalte, Dozierende und Relevanz der Fortbildungen.
- Sie dienen als Schnittstelle zwischen Therapeut:innen und Krankenkassen – mit klaren Qualitätskriterien, die sich in der Praxis bewährt haben.
Was fehlt, ist eine verbindliche Aussage der Krankenkassen, wie sie künftig mit Therapeut:innen umgehen werden, die qualifiziert und bereits anerkannt arbeiten, aber nicht im neuen HFP-System verankert sind.
Was steht auf dem Spiel?
Die berufliche Tätigkeit wird durch das Nichtbestehen der Prüfung nicht verboten.
Aber:
Die Abrechnungsfähigkeit mit Zusatzversicherungen kann entfallen, wenn Therapeut:innen nicht mehr von den Zusatzversicherungen der Krankenkassen anerkannt werden – weil diese sich künftig auf die bestandene HFP stützen könnten.
Das bedeutet konkret:
– Wer die Prüfung nicht ablegt oder besteht, verliert möglicherweise den Zugang zur Vergütung seiner Leistungen – auch wenn der Therapeut seit Jahren qualifiziert arbeitet und von den Zusatzversicherungen anerkannt ist.
– Die wirtschaftliche Grundlage der Praxis kann dadurch ernsthaft gefährdet sein.
Was jetzt nötig ist
Die Entwicklung alternativer und komplementärer Medizinberufe verdient Anerkennung.
Der Wunsch nach Standardisierung, Transparenz und Integration ist nachvollziehbar und notwendig. Sowohl aus Sicht der Fachwelt als auch im Interesse der Patient:innen.
Doch die Umsetzung muss praxisnah bleiben und Raum lassen für:
– Berufliche Erfahrung als relevanter Teil der Qualifikation.
– Übergänge, die begleiten – nicht ausschliessen.
– Versicherungsmodelle, die den tatsächlichen Bedarf der Patient:innen abbilden.
Ein weiterer Schritt wäre dringend nötig:
Ein integriertes Modell, das ärztliche Leistungen (über die Grundversicherung) und therapeutische Leistungen (über die Zusatzversicherung) sinnvoll miteinander ergänzt.
Nur wenn diese Schnittstelle definiert und abgesichert ist, kann die im Berufsbild vorgesehene Rolle als Erstanlaufstelle realistisch erfüllt werden.
Andernfalls bleibt die Höhere Fachprüfung ein gut gemeintes Konstrukt – aber ohne Systemwirkung, weil die strukturellen Voraussetzungen fehlen.
Entwicklung braucht Augenmass – und Systemanpassung
Die Alternativmedizin ist in der Gesellschaft angekommen.
Doch sie steht noch immer am Rand des Systems, obwohl sie vielerorts längst integrale Verantwortung übernimmt.
Wer den Berufsstand weiterentwickeln will, muss auch den Weg dorthin ermöglichen – fair, anschlussfähig und gemeinsam mit denjenigen, die diese Arbeit seit Jahren tragen.
Nachhaltige Qualität entsteht nicht allein durch neue Prüfungsformate.
Sie entsteht dort, wo Erfahrung anerkannt, Strukturen angepasst und Rollen realistisch definiert werden.
Solange die gesetzliche und versicherungstechnische Grundlage fehlt, bleibt der Anspruch an die Berufsgruppe – etwa als Erstanlaufstelle zu wirken – systemisch unerfüllbar.
Wenn dieser Widerspruch nicht aufgelöst wird, stellt sich unweigerlich die Frage:
Wozu führen wir neue Prüfungen ein – und wer trägt die Verantwortung für die Folgen?
Wie erleben Sie die aktuelle Entwicklung?
Ich bin interessiert an Rückmeldungen von Therapeut:innen, die sich mit den Übergangsregelungen, der neuen Prüfung oder den Auswirkungen auf ihre Praxis beschäftigen.
Ziel ist es nicht, Kritik zu sammeln – sondern Perspektiven sichtbar zu machen, die in der Systemgestaltung bislang wenig Gehör finden.
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